Präsenz und Achtsamkeit im sexuellen Leben
von Gil Fronsdal
Sexualität ist mehr als ein Lebensbereich, in dem wir kein Fehlverhalten begehen sollten, betont der Dharma- und Meditationslehrer Gil Fronsdal. Im sexuellen Ausdruck sieht er eine komplexe Form der Kommunikation. Psyche, Geschichte und Kultur spiegeln sich darin ebenso wider wie unsere Sichtweise von uns selbst und unser Verständnis von anderen. Grund genug, auch die Sexualität buddhistisch zu erhellen.
Sexualität ist tief in jedem menschlichen Leben verankert. Deshalb stellt die Entscheidung, ob wir persönlich sexuell aktiv sein wollen oder nicht, bereits eine komplexe Angelegenheit dar. Doch wie auch immer wir uns entscheiden: Wenn wir unserer Sexualität keine Aufmerksamkeit schenken, sie nicht untersuchen, betrachten und verstehen, dann bleibt sie im Unbewussten und kann sogar zu einem dunklen Bereich des Lebens werden.
Anstatt in Angst, Scham, Schuld, Verlegenheit oder Schweigen zu verharren, können wir versuchen, mehr Klarheit und Integrität in unser sexuelles Leben zu bringen – indem wir es aus der Perspektive buddhistischer Lehren betrachten.
Sex mit Wohlwollen und Freundlichkeit
Eine Möglichkeit, die ich in Workshops über Buddhismus und Sexualität mitunter angeboten habe, besteht darin, über die brahmaviharas zu meditieren, also über Wohlwollen, Freundlichkeit, Güte, Mitgefühl und Mitfreude. Nach einer solchen Meditation frage ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer manchmal: „Wie wäre es für euch, wenn ihr euch in dem Zustand, den ihr jetzt herbeigeführt habt, eurem Liebhaber, eurer Liebhaberin nähern würde? Wäre es anders als sonst? Warum wäre es anders?“
Einen weiteren, sehr ergiebigen Zugang bietet der Achtfache Pfad.
Zu Beginn dieser Lehre unterstreicht der Buddha, wie wichtig die Perspektive ist, die wir einbringen, wenn wir etwas betrachten. Die Linse, durch die du das Leben betrachtest – Geldverdienen? Vergnügen? Angst? – wird zu der Art und Weise, wie du das Leben verstehst und erfährst.
Der Buddha hat die Perspektive der Vier Edlen Wahrheiten empfohlen: über das Leiden zu reflektieren, über sein Entstehen, seine Beendigung und den Weg dorthin.
Viele Menschen haben eine hohe Toleranz für ihr psychisches Unbehagen entwickelt, für Stress, Scham, Verlegenheit und Angst. Aber der Buddhismus sagt: Du musst dein Leiden und deine psychische Not nicht tolerieren; du kannst etwas dagegen tun. Du kannst dich fragen, welche Ursachen sie haben. Findest du zwanghafte Gedanken, Ängste und zwanghaftes Verlangen in dir? Gibt es Identitäten, die du meinst einnehmen zu müssen, wenn du zu anderen Menschen in Beziehung gehst? Meinst du, dich irgendwie beweisen zu müssen?
Wenn wir zwanghaftes Denken und Anhaftungen in unsere Sexualität mitbringen, ist Leiden so gut wie vorprogrammiert. Dann muss die sexuelle Erfahrung auf eine bestimmte Art und Weise sein und darf keinesfalls anders sein. Mitten im sexuellen Akt möchten wir wahrscheinlich nicht innehalten und unsere Erfahrung betrachten, aber es kann doch hilfreich sein, später darüber nachzudenken. Habe ich mich dabei wirklich wohlgefühlt? War ich angespannt? Habe ich mich irgendwie unterdrückt oder doch unter Druck gesetzt gefühlt? Was war die Ursache dafür und was ließe sich daran ändern?
Die Gegenwart von Leiden und die Abwesenheit von Freiheit zu spüren und uns dann auf den Weg zur Beendigung des Leidens zu machen, lässt einen mächtigen Bezugspunkt in uns entstehen. Wir können uns auf jede Aktivität und eben auch sexuelle Aktivitäten einlassen mit Fragen wie: Was ist jetzt hier wichtig? Wie wäre es, wenn ich mich auf diese Aktivität einlassen könnte ohne die Last des Leidens, der Angst, der Bedrängnis, der Anforderungen und Erwartungen?
Allein die einfache Reflexion über das, was wir tun, öffnet die Tür zu einer reichen Welt der Selbsterkenntnis und Selbstentdeckung. Denn das Leiden ist nicht in die Struktur des Universums eingebaut. Es gibt dazu eine Alternative, und je mehr wir uns darin üben, desto stärker entwickeln wir ein Gefühl für diese Alternative. Wir erfahren sie. Wir lernen, in ihr zu ruhen.
Sex mit guter Absicht
Das zweite Element des Achtfachen Pfades ist die richtige oder rechte Absicht. Der Buddha hat betont, dass Absichten einen großen Unterschied in unserem Leben machen, und er hat uns geraten, drei Einstellungen zu vermeiden: Zunächst die Lust, doch das bedeutet nicht, dass wir sexuelles Verlangen per se vermeiden sollen, sondern es geht um die Lust als Zwang und als Form der Gewalt, um sich jemandem aufzudrängen. Auch Feindseligkeit sollen wir vermeiden, ebenso wie Grausamkeit. Beide kommen in der Sexualität leider häufig vor, im Extremfall als Vergewaltigung und sexueller Missbrauch. Doch selbst einvernehmlicher Sex kann Spuren feindseliger oder grausamer Kommunikation aufweisen und wir können uns fragen, ob wir das auch bei uns mitunter feststellen können.
Als drei hilfreiche Haltungen schlug der Buddha Einfachheit, Wohlwollen oder Freundlichkeit und Mitgefühl vor. Gibt es in unserer sexuellen Kommunikation Wohlwollen und Freundlichkeit? Wenn nicht, warum ist das so? Wenn doch, wie stabil und stark sind sie?
Das dritte Element des Achtfachen Pfades berührt die Ethik, was unter anderem bedeutet, nicht zu nehmen, was uns nicht frei gegeben und angeboten wird. Viele Menschen haben leider ungewollte sexuelle Annäherungsversuche erleben müssen oder sie selbst haben an anderen, die das nicht wollten, sexuelle Handlungen vorgenommen. Solche Verhaltensweisen verursachen in der Welt sehr viel Leiden. Kein sexuelles Leid zu verursachen, ist jedoch eines der zentralen Gebote des Buddhismus. Die einfache Verpflichtung, nicht zu nehmen, was einem nicht gegeben wird, kann einen großen Beitrag zu einer gesünderen Sexualität leisten.
Das vierte Element des Achtfachen Pfades ist der rechte Lebenswandel. Es gibt viele Menschen, die ihr Geld mit Sexarbeit verdienen, und für manche mag das in Ordnung und mit ihrer Menschenwürde vereinbar sein. Doch es gibt in der Sexarbeit auch Lebenssituationen, die menschenunwürdig sind und mit furchtbarer Ausbeutung einher gehen. Und während Erotik inspirierend und ästhetisch sein kann, kann Pornografie eine Kultur der Erniedrigung erzeugen. Sie kann unser Verhältnis zur Sexualität und zu unseren Sexualpartnerinnen und -partnern schwer verwirren und insgesamt in der Gesellschaft, besonders bei Jugendlichen, einen enormen Schaden anrichten.
Das rechte Bemühen ist die fünfte Ebene des Achtfachen Pfades. Hier geht es um das Bemühen, ungeschickte und ungesunde Verhaltensweisen zu vermeiden und gesunde Geisteszustände zu kultivieren. Wenn wir für die Menschen, mit denen wir zusammen sind, präsent und klar sein möchten, müssen wir lernen, uns von Unzufriedenheit, Angst, Gier und Verlorenheit fortzubewegen und uns auf Zufriedenheit, Friedfertigkeit, Gleichmut, ein erhöhtes Bewusstsein und eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzubewegen. Das gilt in der Sexualität genauso wie in anderen Lebensbereichen.
Sex mit Achtsamkeit
Dabei unterstützt uns die siebte Ebene des Achtfachen Pfades – die Achtsamkeitspraxis, die uns hilft, sorgfältig darauf zu achten, was in diesem Moment vor sich geht. Wir bleiben aufmerksam und mit uns selbst in Kontakt, anstatt uns völlig zu verlieren. Wenn es um Sex geht, verlieren Menschen schnell ihren klaren Geist, doch das ist vielleicht gar nicht so gut. Besser wäre es, in Verbindung zu bleiben und herauszufinden, was gerade geschieht. Was motiviert uns in diesem Moment? Welche Gefühle, Vorstellungen, Anspannungen mischen sich hinein? Sexuelle Aktivitäten sind ja nicht selten eine Flucht vor Unsicherheit, Ungewissheit oder Spannungen in einer Beziehung; sie können eine Suche nach Halt sein oder auch eine Form, einander Zuneigung und Entgegenkommen auszudrücken. Im Sex geht also viel vor sich; er ist eine Kommunikation mit vielen subtilen Ebenen. Wir können sie wahrnehmen, wenn wir aufmerksam und anwesend bleiben.
Das achte Element des Achtfachen Pfades ist die richtige Konzentration. Ein konzentrierter Meditationszustand ist ein Zustand der Einheit und Ganzheit. In diesem Zustand fühlen wir uns nicht mehr von uns selbst getrennt oder in uns zersplittert, sondern die vielen Energien in unserem Körper und unserem Geist kommen auf harmonische Weise zusammen. Konzentration kann in Menschen ein tiefes Gefühl des Wohlbehagens auslösen, des Glücks, der Freude und sogar der Ekstase. Deshalb hat der Buddha auch speziell über den Wert der Konzentration gesprochen, um Anhaftungen an sinnliche und sexuelle Vergnügungen zu überwinden. Wenn man eine Freude kennt, die länger anhält und mehr Ekstase auslöst als Sex oder ein Orgasmus, dann verändert sich auch die Perspektive auf die Sexualität.
Sex als Liebe und Fürsorge
Versuchen wir abschließend noch einmal, das sexuelle Leben in eine größere Perspektive zu rücken. Sexualität kann eine tiefe Form der Kommunikation darstellen und Liebe, Fürsorge, Verbundenheit und tiefe Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Leider sind wir oft abgelenkt und innerlich in andere Themen verwickelt. Uns fehlt die Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen und diese tiefe Verbindung überhaupt herzustellen. Ich kenne viele Menschen, die früher sexuell überaus aktiv waren und später von sich sagen mussten, dass sie ihre vielen Partnerinnen oder Partner nie wirklich gekannt haben: Weil die Beziehungen oberflächlich blieben, blieb es auch die Sexualität.
Den Achtfachen Pfad auf unsere Beziehungen und auch auf unsere Sexualität anzuwenden, spricht dem sexuellen Leben einen größeren Wert zu, es wird bedeutungsvoller und wir gehen in diesem Prozess eine tiefere Verbindung zu uns selbst und zu anderen ein.
Der Achtfache Pfad unterstützt uns auf dem Weg zur Befreiung, denn je mehr wir uns selbst und unsere Anhaftungen verstehen, umso mehr können wir auch lernen, sie loszulassen. Ganz gleich, ob man Sexualität aktiv auslebt, autosexuell, partnerschaftlich oder polysexuell, oder ob man sich für Enthaltsamkeit entschieden hat: Das große Experiment und Forschungsprojekt besteht also darin herauszufinden, ob es möglich ist, so mit der eigenen Sexualität umzugehen, dass es darin keine Gier, keinen Hass, keine Angst, keine Feindseligkeit und Grausamkeit gibt. Wie sieht eine befreite Sexualität aus? Das gilt es herauszufinden.
Sex besser verstehen lernen
Warum sage ich das alles? Warum rufe ich nicht dazu auf, der Sexualität keine große Bedeutung beizumessen und ihren Einfluss auf unser Leben möglichst herunterzufahren? Ich sage es, weil es in der Welt unendlich viel Schmerz durch sexuellen Missbrauch, sexuelle Grausamkeit und Gedankenlosigkeit gibt. Das liegt unter anderem daran, dass die Sexualität – obwohl wir in der Werbung, im Internet, in der Musik und in Filmen ständig mit sexualisierten Darstellungen bombardiert werden – dennoch häufig ein ignorierter Teil unseres Lebens geblieben ist. Sie findet im Halbdunkel statt und bleibt uns zu weiten Teilen unbekannt und unbewusst. Deshalb plädiere ich dafür, sie besser verstehen zu lernen.
Vielleicht und hoffentlich können wir so dabei helfen, einen kulturellen Wandel herbeizuführen. Einige Menschen müssen beginnen, sich mit ihrer Sexualität bewusst auseinanderzusetzen. Sie müssen aufwachen und aufmerksam und weise werden. Eine der Möglichkeiten, mehr Weisheit zu entwickeln, besteht darin, die buddhistische Praxis auch auf diesen Bereich unseres Lebens anzuwenden. Wir haben haben den wunderbaren Achtfachen Pfad. Damit zu arbeiten, ist ein wenig wie „Sex nach Zahlen“ – gehe von eins bis acht und dann beginne wieder von vorn.
Genießt es!
Ich danke euch.
Der Artikel beruht auf einem Dharmavortrag, den Gil Fronsdal am 6. Juni 2018 im Insight Meditation Center in Redwood City in Kalifornien, USA, gehalten hat. Kürzung und Übersetzung von Susanne Billig. Der Vortrag ist in voller Länge im englischen Original anzuhören: audiodharma.org/talks/8982
Buddhismus Aktuell 3/2023