Kapitel 23: Mitgefühl: Dem Leid ohne Widerstand gegenüberstehen
Auch wenn wir mit voller Achtsamkeit
In alle Richtungen auf Suche gehen,
finden wir doch niemanden,
der uns näher steht als wir uns selbst.
Mit derselben Leidenschaft
sind sich Andere am Nächsten.
Wir sollten also, wenn wir uns selbst lieben,
Niemandem anderen ein Leid zufügen.
–Samyutta Nikaya 3.8
Mitgefühl gehört zu den zentralen Werten und Idealen der buddhistischen Praxis. Es als Ideal zu sehen bedeutet allerdings, dass die schwierigen Umstände, aus denen es hervorgeht, leicht übersehen werden. Mitgefühl geschieht nicht im Abstrakten. Es entsteht wenn wir im direkten Kontakt mit wirklichem Leid, unserem eigenen oder dem Leiden Anderer, berührt werden.
Wir können dem Leid mit oder ohne Widerstand gegenübertreten. Wenn wir uns dem Leid widersetzen bedeutet das, dass wir mit Furcht, Verzweiflung, Missbilligung, Ängstlichkeit oder Projektion reagieren. Wenn wir außerdem unsere eigenen Probleme und Sorgen auf andere Leidende übertragen, sind wir nicht in der richtigen Lage Hilfe anzubieten und können leicht selbst in Trauer, Mitleid oder Angst geraten.
Wenn wir aber dem Leid ohne Widerstand begegnen, vermeiden wir es ein Opfer des Leides zu werden. Vielmehr kann es uns auf zwei verschiedene Weisen motivieren. Auf der einen Seite kann es in uns den Wunsch, ja vielleicht sogar die Leidenschaft erwecken, mit unserer spirituellen Praxis die Wurzeln des Leides in uns selbst aufzulösen. Das bedeutet, dass wir motiviert sind, uns unsere Widerstände, Anhaftungen und Ängste, wie auch unsere Freuden und Stärken ganz deutlich zu machen. Auf der anderen Seite kann der Kontakt mit Leid den mitfühlenden Wunsch in uns erwecken, alles Leid der Welt zu lindern. Das buddhistische Wort für Mitgefühl, Karuna, bedeutet nicht nur Einfühlungsvermögen. Es beinhaltet auch den Wunsch und die Motivation dem Leid ein Ende zu setzen. Selbst wenn es uns nicht möglich ist direkt zu helfen, kann unsere Fürsorge ein großer Trost sein.
Im Idealfall bedeutet Karuna dem Leid ohne Verneinung, Abwehr oder Abneigung präsent zu sein. Das ist in der Wirklichkeit unseres oft chaotischen
Lebens nicht immer leicht, doch können wir immerhin lernen unseren eigenen Neigungen zu Verneinung, Abwehr und Abneigung und dem Schmerz, aus dem sie entsprungen sind, einfach mit Mitgefühl zu begegnen. Mit der Bereitschaft inmitten der Wirrungen unseres Lebens still zu sitzen beginnt der Prozess, den Knoten aus Spannung oder Angst aufzulösen. Bei aufrichtiger Anwesenheit und Mitgefühl schmilzt der Groll und verwandelt sich in Versöhnlichkeit; aus Hass wird Zuneigung und aus Ärger wird Güte. Wenn wir uns aber in Geschäftigkeit, Ehrgeiz, Zerstreuung oder Hirngespinsten verlieren, hat Mitgefühl keine Chance sich zu entfalten.
Indem wir uns selbst und unser Leiden mehr und mehr akzeptieren, beginnen wir das Leiden Anderer besser zu verstehen. Achtsamkeitspraxis hilft uns anderen Menschen als Gleichgestellten zu begegnen. Und das wiederum schützt uns davor sentimentales Mitleid—jemanden ohne persönliche Beziehung zu bedauern—mit wahrem Mitgefühl zu verwechseln.
Leiden ist eine Erfahrung der die ganze Menschheit ausgesetzt ist; ihr mit Mitgefühl zu begegnen ist eine der ehrenvollsten Eigenschaften, die wir Menschen besitzen.